Montag, 16. November 2015

Über den Tellerrand

Sie  hatte warten müssen. Es war schon fast 11 Uhr, als sie mir in die OP Schleuse gebracht wurde. Freundlich lächelnd schaute sie mich an.

Die Kollegin, welche sie brachte, machte sich gleich wieder auf den Weg. Auch in dieser Klinik, einem Maximalversorger, war der Personalmangel überall zu spüren. Mein Einsatz hier als Honorarpflegekraft in der Anästhesie sollte dem etwas entgegen wirken. Auf den Stationen gab es solche Entlastung leider nicht.

Ich überflog kurz die Unterlagen. Fältchen,Luise, 74 Jahre alt, vorgesehen zur Hüft-TEP rechts. In der Vorgeschichte waren noch ein Diabetes mellitus sowie eine Demenz vermerkt.
“Guten Morgen, Frau Fältchen, wie geht es ihnen?” Sie lächelte liebenswürdig und nickte. Um Zeit zu sparen, glich ich ihre persönlichen Daten mit Hilfe des Armbändchens ab. Die Zeiten zwischen dem Ende einer OP und Beginn der nächsten müssen möglichst kurz gehalten werden. Ich schob den OP Tisch neben ihr Bett. “Haben sie heute etwas gegessen oder getrunken?” Wieder nickte sie freundlich. Ich schaute auf. Eindringlich fragte ich sie erneut.
Ihr Lächeln verschwand. “Ja, hab ich doch gesagt!”

Gesagt hatte sie bisher noch gar nichts, dafür jetzt umso deutlicher. Neben mir tauchte der Orthopäde auf. Er hatte die Äußerungen von Frau Fältchen mitbekommen. "Sie ist dement, das nehmen wir jetzt mal nicht so ernst." "Sie  vielleicht nicht, ich schon." Drohend baute er sich vor mir auf. "Was fällt ihnen…." "Mir fällt eine ganze Menge ein, zum Beispiel die Sicherheit meiner Patienten." "Sie halten den ganzen Betrieb auf!"  Mittlerweile hatten sich einige Zaungäste eingefunden, die interessiert zuhörten. Auch den zuständigen Anästhesisten sah ich heraneilen.

Ich ließ ihn stehen und rief die Station an. Nein, Frau Fältchen hätte ganz sicher kein Frühstück bekommen, versicherte die Kollegin, sie selbst habe das Frühstück ausgeteilt. Nun waren sich Operateur und Narkose Doc einig, die Patientin sollte operiert werden. Skeptisch betrachtete ich die alte Dame. "Frau Fältchen, was gab es eigentlich zum Frühstück?" Sie lächelte wieder und setzte sich auf. "Ein schönes Käsebrötchen, hat mir mein Sohn gestern mitgebracht – für alle Fälle! War genau richtig, denn heute Morgen haben sie mich beim Frühstück vergessen! Und meine Nachbarin wollte ihren Tee nicht, den hat sie mir geschenkt! Jawoll!"
Beide Doktoren sahen mich an als hätte ich ihr das Brötchen gegeben.
"Back to sender und bestell den Nächsten." Der Narkose Doktor war genervt, der Operateur geladen.

Ich denke, dass niemand der alten Dame gesagt hatte, dass sie vor der Operation nichts essen und trinken darf. Die Diagnose Demenz verleitet auch Fachleute zu einem bestimmten Bild des Patienten. Offenbar hatte auch der Orthopäde nie über seinen fachlichen Tellerrand hinausgeschaut. 

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